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Abi 2010 - Wir waren eher dichter als Denker

Am 19.3.2010 erhielten 91 Abiturientinnen und Abiturienten in der festlich dekorierten Aula der IGS Ingelheim von Schulleiter Jürgen Wawrzyniak und vom neuen Oberstufenleiter Lorenz Mackert im Rahmen der offiziellen Feier ihr Abiturzeugnis.
An die Zeugnisausgabe schlossen sich die Ehrungen an:
Mit dem Buchpreis der Bildungsministerin wurde Jana-Marie Peil für ihr soziales Engagement sowie für ihre langjährigen Aktivitäten im Orchester und ihre Leistungen im Schultheater ausgezeichnet.
Lukas Hauschild erhielt den Pierre-de-Coubertin-Preis des Landessportbundes für sein außerordentliches sportliches Engagement.
Ohne den zuverlässigen, ausdauernden und fachkompetenten Einsatz von Matthias Krenzl im Bereich der Veranstaltungstechnik wären viele Aufführungen und Veranstaltungen in der Schule kaum möglich gewesen. Deshalb erhielt er vom Schulleiter als Dank und besondere Auszeichnung den IGSIGlobe der Schule mit einer Urkunde.
Ebenfalls den IGSIGlobe erhielt Herr Bernd Peil für sein langjähriges ehrenamtliches Engagement bei der technischen Betreuung von Schulveranstaltungen, insbesondere Musical- und Theateraufführungen.

Das Motto des Jahrgangs „Wir waren eher (d)Dichter als Denker“ wurde als ironisch witziges, aber auch ernsthaftes Thema in verschiedenen Redebeiträgen aufgegriffen.
Im zweiten Teil des Abendprogramms dominierte ein lockerer bildhafter Rückblick der Abiturienten auf ihre Zeit an der IGS sowie als Höhepunkt das Männerballett des Abiturjahrgangs.

Rede des Schulleiters zur akademischen Feier des Abiturjahrgangs 2010

Einen wunderschönen guten Abend, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, sehr geehrte Eltern, liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte Gäste,

herzlich willkommen in dieser festlich dekorierten Aula zu unserer Abiturfeier.

Zunächst, vielen Dank allen Helferinnen und Helfern! Ein herzlicher Dank geht an die MSS-Leitung, Herrn Mackert und Frau Lambinus, und an alle Lehrkräfte für ihr Engagement bei den diesjährigen Abiturprüfungen.

91 Schüler/Innen haben bestanden- eine große Zahl! Euch allen unseren besonderen Glückwunsch und einen kräftigen Applaus für eure Leistung!

Aber vergessen wir nicht die fünf, die es leider nicht geschafft haben, auch ihnen alle guten Wünsche für die weitere Zukunft.

Verehrte Anwesende, vor jeder Abiturfeier gibt es für die Abiturienten eine Menge Arbeit. Es gibt soviel zu tun, wie nie zuvor während der Schulzeit. Außerdem kommen noch die Vorbereitungen für die Prüfungen als zusätzliches Pensum dazu. Aber die meiste Arbeit macht die Klärung der brennenden Frage:

Wie soll das Abiturmotto lauten???
Dabei sind hohe intellektuelle Anforderungen zu bewältigen.

  • Das Motto muss witziger sein als das vom letzten Abiturjahrgang.
  • Es soll intelligenter sein als das vom Nachbargymnasium.
  • Es muss einfach genug sein, dass der Schulleiter es versteht.

Abitur 2010 – Wir waren eher (d)Dichter als Denker!

Ich denke, ich habe das Motto verstanden, auch den kleinen „Rechtschreibfehler“ und ich nehme es zum Anlass, ein kleines Plädoyer – weniger für Dichter - sondern für Denker zu halten.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste, vor etwa 800 Jahren, um 1210, im hohen Mittelalter, hat der Dichter Walther von der Vogelweide in einem berühmten Gedicht die literarische Figur des nachdenklichen Menschen geschaffen, eben die Figur des Dichters und Denkers.

Er beschreibt sich als Dichter und Denker, der ganz ruhig dasitzt, den Kopf in die Hand gestützt, in sich versunken - und er tut: nichts. Außer: Er denkt! Er denkt nach über die politischen und gesellschaftlichen Probleme seiner Zeit. Er denkt nach über die Ursachen für die große Krise, welche damals die Welt fast aus den Fugen geraten ließ. Und er kommt mit seinem Nachdenken zum Ergebnis, dass die Menschen mit drei Werten nicht richtig umgehen können, nämlich mit materiellem Besitz, mit Ehre, also öffentlichem Ansehen, und ethisch-moralischer Verantwortung.

Liebe Zuhörer, dieses Thema ist auch heute, nach 800 Jahren hochaktuell:

Wir leben in einer von Krise geprägten Zeit. Die Ursachen liegen u. a. in einem anscheinend unaufhaltsam steigenden Streben nach immer größerem materiellem Besitz. Und das rund um den Globus.

  • Haben dabei Werte wie Ansehen und Verantwortung für die Zukunft ausgedient?Hat man Verantwortungsbewusstsein derzeit total global „abgewrackt“?
  • Vielleicht um den Wert von letztlich wertlosen Finanzprodukten?
  • Was hat Schule damit tun? Wozu heute eigentlich Abitur?

Verehrte Anwesende, beim Fernsehen ist mir eine populäre Produktwerbung mit folgendem Slogan aufgefallen: „Ich nehme das Produkt XY, weil ich es mir wert bin.“ Auf den ersten Blick eine harmlose Aussage. Aber einmal hinterfragt offenbart sich hier eine gängige Werteauffassung, die wesentlich eines widerspiegelt: Wertvoll ist nur das, was mir nützt! Ist nicht die in den Medien und an den Stammtischen z. Z. viel gescholtene Gier von skrupellosen Finanzspekulanten oder Steuerflüchtlingen nur der Gipfel und die Zuspitzung dieser Haltung, deren soziales Label die absolute Egozentrik ist? Das Individuum denkt – aber nur an sich selbst!

Wer ausschließlich die Wertsteigerung seines Lebensstandards als einzig gültigen Lebenswert sieht, sei es zu Hause, in Schule oder im Beruf – der denkt zu kurz, weil er nur bis zu sich selbst denkt.

Asoziale Egozentrik lässt unser normales marktwirtschaftlich und entwicklungs-technisch unbedingt notwendige Konkurrenzprinzip mutieren zu einem radikalen Verdrängungskampf. Dieser wiederum lässt  sozialen Wettbewerb entarten zu feindseligem Gegeneinander. Und auf solchem Nährboden gedeihen dann leider prächtig soziales Misstrauen, Krise, Not und Feindseligkeiten.

Es stellt sich die Frage: Haben wir Chancen auf eine lebenswerte Zukunft?

In meiner Referendarzeit – lang ist her - ist mir einmal ein Buch in die Hände gekommen, dessen Titel ich  vergessen habe, von dem mir aber ein Satz seit mehr als 30 Jahre im Gedächtnis haften geblieben ist. Er lautet: „Schafft die Schule ab, sie ist überflüssig. Denn alles was Kinder und Jugendliche lernen, lernen sie außerhalb der Schule.“ – Nun ja, vielleicht ein schöner Satz für Schüler!!

Dieser Satz meint aber mit anderen Worten: Schule muss mitten im Leben stehen. Ansonsten erfüllt sie nicht ihre Aufgabe. Nun ist Schule bekanntlich nicht abgeschafft worden, sondern hat sich seither enorm gewandelt. Wir Älteren hier wissen das. In heutiger Zeit ist Bildung nicht mehr abkoppelt von weiterführenden Entwicklungen. Schule existiert nicht mehr in einem abgeschotteten Bereich. Viel Neues hat im Unterricht Platz gefunden: OH-Projektoren, Beamer, Computer, Internet mit Google und Wikipedia, ehemals verpönte Tabuthemen wie Sexualität oder auch die Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit, aktuelle politische und wirtschaftliche Fragen, Berufkundeunterricht u.v.m. - Fast nichts ist mehr tabu, fast alles findet den Weg in die Schule.

Und das ist im Prinzip auch gut so. Denn unsere Wirtschaft, unsere Forschung und Technik, wir alle würden bald den notwendigen Anschluss in der Welt verlieren, wenn es nicht so wäre.

Aber, liebe Zuhörer, solcher Segen kann aus meiner Sicht auch zum Fluch werden. Wir müssen heute aufpassen, dass Schule nicht zu einem Ort wird, in dem Kinder und Jugendliche vorwiegend auf Anwendungszwecke getrimmt werden. Schule darf nicht zum „schnellen Brüter für die Wirtschaft“ werden. Ich meine: Vorsicht vor unkalkulierbaren Spätfolgen der Verkürzung der Schulzeit und einer Überfrachtung des Schulalltags.

Schule benötigt genügend Zeit zum Lehren und zum ruhigen lernen Lassen, und vor allem: Zeit für eine Erziehung zur Nachdenklichkeit. Schülerinnen und Schüler müssen nicht nur Wissen erwerben, sondern vor allem denken lernen. (Siehe die Probleme des neuen Bachelor-Studienganges.)

Schule und Unterricht sind heute in einem Dilemma, vieles tun zu müssen und anderes nicht lassen zu dürfen. Verantwortliche Bildungspolitik kann mit Blick auf die globale Zukunft nicht auf die Erziehung zu Leistungsfähigkeit, auf Ausbildung und die Vermittlung berufs- und wirtschaftsorientierter Fachkompetenz verzichten.

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, ihr durftet und musstet daher 13 Jahre lang im Fachunterricht lernen, für Prüfungen, für Leistungsmessung und gute Noten. Mancher von euch musste auch lernen, Misserfolge auf dem Weg zum Erfolg, zum Abitur wegzustecken. Und ich weiß: Schlechte Noten können wehtun. Aber bei uns wurde und wird niemand nur an seiner fachlichen Leistung gemessen!

Schule und Abitur schaffen Grundlagen für einen erfolgreichen Berufsweg, daher dürfen Fachwissen und verantwortliche Bildung als Schulziele keinen Gegensatz bilden!

Aber einen guten Lebensstandard oder Glück und Zufriedenheit garantieren kann die Schule nicht, auch nicht mit dem besten Abiturdurchschnitt.

Deshalb, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, hat Schule, wie ich sie verstehe, mehr denn je die Aufgabe, Kinder und Jugendliche umfassend zu bilden und erzieherisch zu wirken. Und dies bedeutet, in ihnen ein Bewusstsein für die Bedeutung von grundlegenden ethisch-moralischen Werten zu schaffen. Wir als Pädagogen  von heute vermitteln Werte nicht im Namen von politischen Doktrinen, nicht im Sinne von gesellschaftlichen Utopien oder religiösem Fundamentalismus. Unterricht heute bedeutet Dienst an der Freiheit des einzelnen Menschen wie an der Gesamtheit aller Menschen. Schule also hat die anspruchsvolle Aufgabe, – vor allem auch in der Oberstufe, der Zeit beginnender Volljährigkeit – den Schülerinnen und Schülern das Bewusstsein zu vermitteln, mit den angeborenen und den erworbenen Fähigkeiten intelligent und verantwortlich für andere umzugehen.

Ziel unserer Arbeit in der Schule ist also eine Werteerziehung, deren Grundlage das Nachdenken, das Reflektieren, die Ausbildung von Intelligenz ist. Manchmal gerät in Vergessenheit, dass schon die Aufklärung vor ca. 200 Jahren gefordert hat, dass der Mensch sich seines eigenen Verstandes bedienen, mündig und vernünftig handeln solle. Vernunft ist zu keiner Zeit überflüssig.

Quo vadis homo sapiens abituriensis?! Sapere aude! Frei nach Immanuel Kant!

Verantwortlich denken zu lernen ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, später verantwortlich handeln zu können - und handeln zu wollen. Ein ausgebildetes Verantwortungsbewusstsein ist das, was neben aller fachlichen, technischen und wissenschaftlichen Kompetenz unsere Gesellschaft dringend benötigt, wenn sie zukunftsfähig sein will: Wissenserwerb hat keine Grenzen, aber der Anwendung von Wissen müssen vernünftige und verantwortbare Wege oder Grenzen gezeigt werden können. Nicht alles, was technisch und wirtschaftlich möglich ist, sollte auch verwirklicht, realisiert werden.

Liebe Eltern, auch aus diesem Grunde wäre es undenkbar, dass perfektionierte Lehrmaschinen oder Super-Computer die Bildungs- und Erziehungsarbeit Ihrer Kinder, dieser jungen Leute hier, hätten übernehmen können. Unterricht muss menschlich lebendig sein, wenn er erfolgreich grundlegende Werte vermitteln will. Und diese Werteerziehung muss unserer demokratischen Grundordnung verpflichtet sein, die letztlich auf einem einzigen ewigen geistigen „Denkmal“ beruht: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Für dieses Denkmal braucht die menschliche Gesellschaft die Schule und die Lehrerpersönlichkeit. – Deshalb an dieser Stelle ein Dank an alle Lehrkräfte!!

Liebe - ab heute - ehemaligen Schülerinnen und Schüler, mein Appell an Euch für die Zeit nach der Schulzeit, nach der Oberstufe und nach der Reifeprüfung:
Nehmt nicht nur die Durchschnittsnote des Abiturzeugnisses mit als Ergebnis eurer fachlichen Leistungen und als Start-Up für Studium oder Beruf. Nehmt nicht nur lockere Erinnerungen an schwierige Momente und an schöne Erlebnisse mit. Nehmt als Startkapital vor allem euren Status als Denker und Denkerin mit, bewahrt und verstärkt eure in der Schule erworbenen Fähigkeiten zu reflektieren und verantwortungsvoll zu denken, auch wenn es nicht immer einfach sein wird.

Deshalb, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, kehren wir Euer Abiturmotto doch einfach  um. Ich wünsche Euch also, dass Ihr doch eher Denker als Dichter sein werdet. Denn es gibt reichlich Arbeit und Arbeitsplätze in der Zukunft für Vordenker und Nachdenker, für Kreuz- und Querdenker, für Mitdenker und Ausdenker, für Überdenker und Weiterdenker. Solche Arbeitsplätze werden nie wegrationalisiert. Denn es gibt immer unendlich viel zu denken!

Abschließend wünsche ich mir, dass ihr später gerne an unsere Schule, an eure IGS Ingelheim, zurückdenkt.

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, liebe Dichter und Denker, ich habe lange genug akademisch laut gedacht und wünsche Euch und Ihnen allen eine wunderschöne Abiturfeier, wie wir sie uns nicht dichter denken könnten. - Danke fürs Zuhören.

Jürgen Wawrzyniak
Schulleiter

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